Claudia Piepenbrock: Tilt, Outlines Our Motion

19 November - 23 December 2022
Overview

In this years final exhibition “Tilt, Outlines Our Motion” sculptor  Claudia Piepenbrock takes on the spaces of the gallery in a solo-show in order to expand them with her work and new perspectives. The relationship between body and space, a central theme in the sculptors work, is renegotiated again and again, spatial boundaries are described by some of the works while others shift those in their physicality. 

 

The sculptor’s artistic practice includes the creation of extensive works in interior and exterior spaces. Many works in her exhibition “Tilt, Outlines Our Motion” provide insight into her way of thinking about space, spatial boundaries, forms of behaviour, milieus as well as form and body. Piepenbrock’s conceptually finely tuned works demand active participation: in order to fully perceive her works, it’s worth to change one’s perspective. Many of the shown objects can be viewed from above like floor plans, while others push their physicality, mass and materiality into actual space.  

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Works
Video
Press release

Claudia Piepenbrock lädt in ihrer neuen Ausstellung zum Nachdenken über Räume, Milieus, Verhaltensformen und Grenzen ein. Dabei fordern die ausgestellten Objekte eine aktive Teilnahme des Publikums ein und greifen so auch immer wieder das Verhältnis des (eigenen) Körpers im Raum auf.

 

Mit dem Eintreten in die Galerie fällt der Blick zuerst auf eine Arbeit, die im Raum zu schweben scheint. Die Blend-Fassade war zuvor in der Künstlerkolonie Worpswede zu sehen, in der auch die Malerin Paula Modersohn-Becker lebte und arbeitete. Dort war das Werk einem massiven Betonsockel vorgesetzt, der dieses fest auf dem Boden verankerte. An ihrem neuen Ausstellungort gewinnt die Arbeit plötzlich eine elegante Leichtigkeit. Ein solches Spiel mit Formen, Objekten und Materialität lässt sich in der Ausstellung Tilt, Outlines Our Motion an vielen Stellen beobachten und gibt damit einen spannenden Einblick in die Schaffensprozesse der Künstlerin. So zeigt im gleichen Raum ein Video dokumentarisch den Aufbau einer Stahlkonstruktion, die auf dem Gelände eines ehemaligen Bergwerkes installiert ist. In der monumentalen Arbeit kreuzen sich durch in Geländer einfasste Rampen vorgegebene Bewegungsabläufe, die den Besuchenden den Weg ein Stück ins Erdreich hinein und wieder hinauf öffnen. In Piepenbrocks Schaffen entstanden bereits einige dieser überlebensgroßen Installationen, die nicht nur zum Betrachten, sondern auch zum Anfassen, Umrunden und Erkunden ermutigen. In der jetzigen Ausstellung wagt sie sich an ein viel kleineres, flacheres Format, in denen dennoch Räume erfahrbar werden können.

 

Neben der Dokumentation der monumentalen Arbeit, befinden sich weitere kleinere Formate, die die Form der Kreuzung aufgreifen. Die durch Geländer eingefassten Rampen tauchen mal als negativ abgeformter Raum, mal durch Verwendung von Schablone und Scan dupliziert in einer gerahmten Fotokopie erneut auf. Dass sich für die Betrachtung der ausgestellten Objekte manchmal ein Perspektivwechsel lohnt, zeichnet sich an diesem Beispiel bereits ab. Viele der folgenden Arbeiten sind wie Grundrisse aus der Luft zu betrachten. So öffnen sich unerwartet neue Räume in der Galerie. Zarte Skulpturen aus Bronze können sich so von einer Zeichnung zu einem Labyrinth aus Gängen, Kammern, Mauern und Brücken wandeln. Ähnlich funktionieren die gerahmten Papierarbeiten, die wider dem ersten Eindruck keine bloßen Tuschezeichnungen sind, sondern aus Papier geformte, eingefärbte Reliefstrukturen. Den Betrachtenden steht die Möglichkeit offen die Raumgefüge in der eigenen Vorstellung selbst mitzugestalten und Bedürfnissen anzupassen.

 

Neben dem Spiel mit Raum, Figur und Raumgrenzen ist im Schaffen von Claudia Piepenbrock auch der Umgang mit Material ein zentrales Thema. Von pulverbeschichtetem Stahl über Schaumstoff bis hin zu Masse aus Papier und Ton tauchen in den Objekten zahlreiche Materialkombinationen auf. Im Arbeitsprozess setzt sich die Künstlerin intensiv mit den einzelnen Stoffen auseinander und entwickelt so immer wieder neue Prozesse. Dabei verändert sie das Ursprungsmaterial teilweise so sehr, dass es in der fertigen Arbeit kaum wiederzuerkennen ist.

 

Die wieder aufgegriffene Form des Kreuzes und die daneben hängenden Tutu`s im zweiten Raum erinnern auf den ersten Blick in ihrer Materialität und Farbigkeit vielleicht an frischen Teer, anstatt an Papier und Ton. Ebenso scheinen die dunklen grauen Säulen im nächsten Raum aus schwerem kühlen Beton oder Stein gefertigt, nicht aber aus Papier und Keramik. Den Betrachtenden wird hier ein Material ohne Geschichte präsentiert, das aufgrund fehlleitender Assoziationen ein neues analytisches Vorgehen bedarf. Der Umgang mit den diversen Materialien schafft es trotz wiederkehrender Formensprache immer wieder neue Atmosphären und Milieus zu erschaffen, in welche die Besuchenden eintauchen können. Ein Werk kann sich so beispielsweise völlig verändern, wenn als Bildträger statt Papier eine ehemalige Arbeit aus pastellgrünem Schaumstoff dient.

 

An mancher Stelle drängt sich ein Objekt mit dessen Körper, Masse und Materialität in den tatsächlichen Raum der Ausstellung. Die Backboards erinnern an frühere Arbeiten der Bildhauerin, in denen sie Schaumstoff-Matratzen aufschnitt und zu begehbaren Kabinen umwandelte. Dort konnten sich Besuchende in eine von der Außenwelt völlig abgekapselte Zone begeben. Ähnlich wie in einem Tonstudio ändert sich auch mit verringerter Distanz zu den Blackboards die Akustik im Raum. Auch die farbige, raumgreifende Arbeit Gallery Tongue, die sich durch die gesamte Mittelachse der Galerie zieht, drängt sich in den Ausstellungsraum. Sie zwingt dadurch gewohnte Bewegungsabläufe zu unterbrechen und andere Wege einzuschlagen. Mit der eigens für die architektonischen Besonderheiten der Galerie geschaffenen Schaumstoffarbeit schafft es die Künstlerin die Räumlichkeiten, um neue Perspektiven zu erweitern.

 

Verbindendes Element aller Werke ist, dass sie sich eindeutigen Zuordnungen zu entziehen scheinen. Die ausgestellten Arbeiten hängen in der Schwebe zwischen Materiellem und Immateriellem, Abhängigkeit und Autonomie, Nähe und Distanz. Paradoxe Zustände verschmelzen und bedingen ein ständiges Hinterfragen von Gesehenen und Erlebten. Claudia Piepenbrock unterstreicht so auch die Notwendigkeit der Selbstwahrnehmung als denkende Person eines jeden Einzelnen. Das in der Ausstellung angeregte Kreieren, bewusste Wahrnehmen und Neudenken von Räumen funktioniert auch über architektonische Räume hinaus. Auch in sozialen und gesellschaftlichen Räumen ist es notwendig, gewohnte Perspektiven zu hinterfragen, neue Blickwinkel einzunehmen und dadurch Grenzen verschwimmen zu lassen. Das Reflektieren der eigenen Position im Raum wird so auf verschiedenen Ebenen thematisiert.

 

Text: Mathilde Blum